Chemiker und halber Berufsmusiker
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Augen und Geist

Theodor Grauer ist Zeuge einer vergangenen Zeit. Sein gesamtes Berufsleben, vom Einstieg 1946 bei Geigy bis zur Pensionierung im Jahr 1983, widmete er der Forschung. Der Chemiker arbeitete stets an der Front, im Labor, dort wo Experimente über Erfolg und Misserfolg entscheiden.

Text von Peter Herzog

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Filterpressen wurden zur Festflüssig-Trennung von Stoffgemischen verwendet.

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Dieser Artikel wurde ursprünglich im Oktober 2015 publiziert.
Publiziert am 24/06/2020

Als Theodor Grauer in der Juni-Ausgabe 2014 den Artikel über das Unicum-Museum von Cesare Sgueglia las, der Objekte aus über 150 Jahren Basler Chemie- und Pharmageschichte zusammengetragen hatte, wurden bei ihm Erinnerungen wach: an seine Zeit als Betriebschemiker bei Geigy und Ciba-Geigy in Schweizerhalle, an ein reiches Berufsleben. 1946, unmittelbar nach Abschluss des Studiums am Polytechnikum Zürich, trat Theodor Grauer seine Stelle bei Geigy an. Er arbeitete stets an der Front, im Labor in Schweizerhalle, dort wo Experimente über Erfolg und Misserfolg entschieden – bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1983. Damals war er aber auch bei der Einführung der neuen Produkte stark involviert. Er besuchte viele Länder, zu erinnern vermag er sich an die Dienstreisen nach Mexiko, Italien und in die USA. Das Zentrum seines Berufslebens blieben indes die Labors in Schweizerhalle.

Beim Lesen des Museums-Artikels im live-Magazin erinnerte sich Theodor Grauer an die Filterpresse, die seit 30 Jahren in seiner Garage steht. Das etwa um das Zehnfache verkleinerte Modell einer originalen Filterpresse hat er von Ciba-Geigy zu seiner Pensionierung erhalten. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein gewichtiges Geschenk: Das Modell wiegt rund 300 Kilogramm.

live hat den pensionierten Chemiker in seinem Haus in Arlesheim besucht. Am 3. November feierte er seinen 96. Geburtstag. Seit 64 Jahren ist er mit seiner Frau Regula verheiratet. Jetzt, da die Beine ihn nicht mehr so richtig zu tragen vermögen und er auf eine Gehhilfe angewiesen ist, kann er auch seinen prächtigen Garten von 2400 Quadratmetern nicht mehr hegen und pflegen, wie er das während über 50 Jahren getan hat.

«Wir sind am Räumen. Wir werden das Haus verkaufen und in eine Alterswohnung ziehen, sobald ein Platz frei wird», erklärt er bei der Begrüssung. Und es sei auch an der Zeit – fügt er an –, sich von den Utensilien aus seinem Berufsleben zu trennen. Deshalb hat er Cesare Sgueglia angerufen und ihm die Filterpresse für sein Museum angeboten; der «Museumsdirektor» hat sich über dieses Angebot gefreut. Mittlerweile ist Theodor Grauer mit seiner Frau in die Altersresidenz Tertianum im St. Jakob-Park gezogen.

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Che­mi­ker und hal­ber Be­rufs­mu­si­ker

Filterpressen spielten im beruflichen Alltag von Theodor Grauer eine wichtige Rolle. Sie wurden zur Fest-flüssig-Trennung von Suspensionen verwendet: «Man liess ein Stoffgemisch (Suspension) in die mit Tuch belegten Kammern fliessen, und die wurden unter hohen Druck gesetzt. Die Flüssigkeit passierte das Filtermittel und verliess die Presse durch Ablaufkanäle. Der Filterkuchen fiel in die unter die Presse gestellten Holzkisten und wurde getrocknet. So entstanden, einfach erklärt, Farbstoffe», erzählt Theodor Grauer. Heute, fügt er an, sei dieses Verfahren selbstverständlich veraltet und werde längst nicht mehr angewendet.

Die Augen hinter seinen Brillengläsern mustern den Besucher aufmerksam, seine Wörter sprudeln. Die Erinnerungen an seine Berufswelt sind präsent, sein Gedächtnis ist erstaunlich. Es sind Geschichten aus einer vergangenen Zeit. «Ich bin ja Naturwissenschaftler, war in meiner Freizeit aber ein halber Berufsmusiker», lacht er. «Ich spielte Bratsche und Geige in vier verschiedenen Orchestern und hatte auch ein eigenes Streichquartett; deshalb kenne ich fast alle Stücke von Beethoven, Haydn, Schubert und Mozart und habe heute mit meinen 96 Jahren noch alles im Kopf.» Beim Erzählen wechselt er fliessend in ein Trällern: «Dä, da, rampampom – das ist die Melodie des Streichkonzerts 18, Nummer 1.»

Musik, Reiten, das Sammeln von Briefmarken und das intensive Arbeiten in seinem grossen Garten waren seine Hobbys. Das sei für ihn Abwechslung und Entspannung zugleich gewesen. Im Militär sei er bei der Kavallerie gewesen, im Grade eines Hauptmanns, betont er nicht ohne Stolz. So wurden auch die Pferde zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens. Im Garten habe er jeweils Stunden auf den Knien verbracht, um die Arbeit zu verrichten. Das sei manchmal mühsam gewesen, aber er habe dies mit sehr viel Freude und Energie getan. Theodor Grauer nutzte diese Tätigkeiten als Ausgleich zu seinem Berufsleben und um Abschalten zu können. Er sagt: «Die Verantwortung, die ich als Chemiker an der Front hatte, war riesig.»

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Au­gen und Geist

Als Chemiker sei er Tag für Tag während Stunden im Labor gestanden: «Wir hatten wenige Apparaturen. Im Labor benutzten wir die Augen und den Geist, um die chemischen Prozesse zu beobachten.» Unter seiner Leitung wurden Pflanzenschutzmittel, optische Aufheller, Produkte der Pharmavorstufe und der Farbstoffvorstufe hergestellt. Am Mottenschutzmittel Mitin® habe er über drei Jahre gearbeitet, «weil wir lange keine Lösung fanden, um es zu filtern.»

Damals sei der Lärm durch die Maschinen in der Werkhalle noch beträchtlich gewesen. Da habe es gerattert und geknattert. Deshalb sei er im Laufe seines Lebens auch ein bisschen ein lauter Mensch geworden, räumt er ein und hebt seine Stimme deutlich an: «Schliessen» schreit er mit bebender Stimme durch seine Stube und gibt so ein Beispiel, wie er damals in all dem Lärm mit seinen Mitarbeitern bei Experimenten habe kommunizieren müssen.

Unfälle habe es einige gegeben, gibt er zu bedenken. An den schlimmsten erinnert er sich noch heute. Damals, gegen Mitte der 1950er-Jahre, gerieten 300 Kilo Aluminiumchlorid und vier Tonnen Nitrobenzol in Brand. «Der Kessel explodierte, das Gebäude wurde abgedeckt und wir hatten 23 verletzte Mitarbeiter. Diesen Unfall kann ich nie mehr vergessen, die Emotionen sind auch jetzt noch da, nach fast 60 Jahren.»

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Um­welt­schutz

Die Gefahr solcher Unfälle sei zum Glück heute sehr viel geringer. Dank den Computeranalysen bei den Verfahren sei die Sicherheit für alle um ein Vielfaches verbessert worden. Die Unglücke damals waren der Grund dafür, dass in der Chemie- und Pharmabranche die Anstrengungen für mehr Sicherheit und Umweltschutz intensiviert wurden. «Nach der Fusion 1970 zu Ciba-Geigy wurden in Schweizerhalle die ersten Kläranlagen gebaut», erinnert sich Theodor Grauer. Dabei initiierte er die erste Boden-Wasser-Luft-Stelle in Muttenz für Angestellte und Anwohner, eine Geruchmeldestelle, wie er erklärt. Die Notrufe über Telefon habe er in seinem Büro in Schweizerhalle empfangen und nachts seien sie an seinen Wohnort in Arlesheim umgeleitet worden. Da sei es vorgekommen, dass es morgens um drei bei ihm im Schlafzimmer geklingelt habe und am anderen Ende der Telefonleitung eine Stimme meldete: «Herr Grauer, kommen Sie sofort. Es stinkt.»

In dieser Zeit schrieb Theodor Grauer auch die zehn Grundsätze für eine saubere Fabrikation, die auch heute noch in der Chemie- und Pharmabranche ihre Gültigkeit haben. Diese Grundsätze seien künftig auch im Unicum-Museum nachzulesen, fügt der Pensionär an. Auch ein Labor-Rührkolben mit Stativ, in dem man chemische Reaktionen beobachtete und den Theodor Grauer schon vor 40 Jahren vor dem Abfallkübel bewahrte, findet den Weg ins Museum. Der betagte Chemiker aber wird sich das Museum selbst nicht anschauen. «Ich gehe in meinem Alter kaum noch aus dem Haus», erklärt er. Aber er ist froh, dass er mit Cesare Sgueglia jemanden gefunden hat, der sich seines Erbes annimmt und als Umweltspezialist nicht nur fähig ist, die Leistungen von Theodor Grauer gebührend zu schätzen, sondern seine Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und in seinem Geist fortzuführen.

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