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Stärkung des Gesundheitssystems
Lokaler Unternehmergeist.
Das Potenzial erkennen
Interview mit Ayesha Jaco, Geschäftsführerin von West Side United, einer gemeinnützigen Gesundheitsinitiative mit Sitz in Chicago.
Text von Goran Mijuk, Fotos von Ashley Gilbertson und Laurids Jensen, Videos von Elia Lyssy und Laurids Jensen.
Als David Ansell ihr anbot, die Gesundheitsinitiative West Side United zu leiten, zögerte Ayesha Jaco nicht. Schliesslich soll die Initiative die Lebenserwartung in ihrem Stadtteil erhöhen, der West Side von Chicago, wo sie schon lange lebt.
Jacos Büro befindet sich im historischen Sears Tower im Zentrum der West Side von Chicago. Von dort aus betreut sie ein umfangreiches Netz von Partnerschaften im Gesundheitswesen und in der Wirtschaft. Dieses Netz soll den mehr als 500 000 Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Stadtteils einen nachhaltigen wirtschaftlichen und medizinischen Wandel ermöglichen.
Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft und die Verbesserung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung, um das Lebenserwartungsgefälle von über 15 Jahren zwischen diesem Stadtteil und dem Stadtzentrum zu verringern. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht zum einen die Verbesserung der Gesundheitsversorgung, zum anderen aber auch die Stärkung der Wirtschaft.
Inspiriert von Ansells Buch The Death Gap, geht sie davon aus, dass struktureller Rassismus, Armut und mangelnde Investitionen in die Gesundheitsversorgung dazu führten, dass Stadtteile systematisch um ihren Wohlstand und ihre Gesundheitsversorgung gebracht wurden.
Armut kann in Chicago alle treffen.

Wie Ansell setzt sie sich für politische Reformen und gemeinschaftsorientierte Initiativen ein, um die Kluft bei der Lebenserwartung zu schliessen. Sie arbeitet daran, gesundheitliche Ungleichheiten anzugehen und die Situation marginalisierter Bevölkerungsgruppen in der West Side von Chicago zu verbessern. Zwar ist die Bevölkerung der West Side zum Grossteil verarmt und leidet unter der schwachen Wirtschaft, aber Jaco setzt auf das grosse Potenzial der hier lebenden Menschen.
Frau Jaco, warum haben Sie sich West Side United angeschlossen?
Offiziell gegründet wurde West Side United im Februar 2018, doch den Grundstein legte die vom Rush bereits 2016 durchgeführte Bedarfsanalyse zur Gesundheitsversorgung in diesem Stadtteil. Im Mai 2018 wurde ich als erste Mitarbeiterin eingestellt. Seitdem haben wir ein 14-köpfiges Team aufgebaut. David Ansells Buch The Death Gap hat mich sehr beeindruckt. Seine offene Diskussion über strukturellen Rassismus und gesundheitliche Ungleichheiten hat mich enorm berührt, da ich aus der West Side komme. Das hat mich dazu inspiriert, mich dieser Mission anzuschliessen und dazu beizutragen, dass sich in meinem Stadtteil spürbar etwas ändert.
Ayesha Jaco erzählt, wie sehr ihr Aufwachsen in Chicagos West Side ihre Vision von der Veränderung der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Stadtteils beeinflusst.
Können Sie uns etwas über den Umfang der Initiative erzählen?
West Side United ist ein Gemeinschaftsprojekt für gesundheitliche Chancengleichheit, das vom Rush und fünf weiteren Gesundheitseinrichtungen gegründet wurde, darunter Ascension, Cook County Health, Lurie Children’s, Sinai Chicago und UI Health. Ziel ist es, das Lebenserwartungsgefälle zwischen den Menschen im Stadtzentrum von Chicago und den zehn Stadtvierteln der West Side zu beseitigen. Unser Sitz befindet sich im alten Sears Tower, mitten im Herzen der West Side.
Mit welchen Schlüsselelementen wollen Sie Ihre Ziele erreichen?
Wir nutzen die Leistungsfähigkeit der Spitäler vor Ort, um für den Stadtteil Ausgaben zu tätigen, Personal einzustellen, Mittel zu investieren und auf diesem Weg wirtschaftliche Vitalität zu schaffen, was entscheidend ist, um dieses Gefälle zu schliessen. Darüber hinaus befassen wir uns mit wichtigen Gesundheitsthemen wie Säuglingssterblichkeit und Bluthochdruck und konzentrieren uns auf Bildung, Zugang zu Nahrungsmitteln und Social Impact Investing. Über Kooperationen unterstützen wir Projekte, die Kleinunternehmen und bezahlbaren Wohnraum fördern.
Wie wichtig sind dabei die Kooperationspartner?
Ohne Partner könnten wir nichts erreichen. Neben dem Rush University System for Health, Cook County Health, der University of Illinois Health, dem Ann & Robert Lurie Children’s Hospital und dem Sinai Health System sind an der Initiative auch lokale Schulen, Gemeinschaftsorganisationen und Unternehmen beteiligt, die sich mit wirtschaftlicher Entwicklung und Initiativen für gesundheitliche Chancengleichheit befassen.
Wie stellen Sie sicher, dass Sie Fortschritte erzielen?
Wir erheben Daten und nehmen Messungen vor. Beispielsweise wissen wir, dass kardiometabolische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Herzerkrankungen sowie Krebserkrankungen, Säuglingssterblichkeit, Tötungsdelikte und Opioid-Überdosierungen die Hauptfaktoren für das Lebenserwartungsgefälle sind. Unsere Strategie besteht darin, diese Probleme direkt anzugehen, und zwar mit lokalen, datengestützten, gemeinschaftsorientierten Lösungen.
Was sind die bislang wichtigsten Erfolge?
Seit 2018 hat West Side United gesundheitliche Ungleichheiten in der West Side von Chicago über die Schaffung von Arbeitsplätzen für mehr als 1800 Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils verringert. Die Initiative hat Millionen in Kleinunternehmen und Wohnraum investiert, um soziale Faktoren zu bekämpfen, die für schlechte Gesundheit verantwortlich sind. Mit öffentlichen Gesundheitskampagnen liessen sich die Impfraten, der Zugang zu gesunden Nahrungsmitteln und die psychiatrische Versorgung verbessern. Bildungs- und Personalentwicklungsprogramme haben Wege zu langfristiger wirtschaftlicher Stabilität geschaffen.
«Wenn ich nach draussen schaue … sehe ich, wie neue Visionen Gestalt annehmen»
Ayesha Jaco, Executive Director von West Side United.

Können Sie etwas zu den Investitionen sagen?
Seit seiner Gründung hat West Side United über 200 Millionen US-Dollar für die lokale Beschaffung bei in der West Side ansässigen Anbietern bereitgestellt. Zudem wurden durch Impact-Investing-Initiativen 10,5 Millionen US-Dollar aufgebracht, mit denen Darlehen in der Höhe von 16,2 Millionen US-Dollar für Gemeinschaftsentwicklungsprojekte unterstützt wurden, darunter Darlehen für Kleinunternehmen, gemeinnützige Kapitalprojekte und bezahlbaren Wohnraum.
Was haben Sie über die West Side von Chicago hinaus bewirkt?
Unser Modell hat landesweit Aufmerksamkeit erregt. Andere Städte und Länder untersuchen, wie wir konkurrierende Anbieter, zum Beispiel Krankenhäuser, zusammenbringen, um gemeinsam die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. Unser Ziel ist es, sektorübergreifende Netzwerke aufzubauen, um Ungleichheiten über lokal verankerte Strategien zu beseitigen. Denn wir sind davon überzeugt, dass sich dank dieser Bemühungen mit der Zeit das Lebenserwartungsgefälle verringern lässt.
Können Sie Beispiele nennen?
Wir hatten internationale Gruppen aus Singapur und London zu Gast. Aus dem Inland haben wir uns mit Gruppen aus Greensboro (North Carolina) und Richmond (Virginia) getroffen, die alles darüber erfahren wollten, wie wir Spitäler an einen Tisch gebracht haben, um sie zur Zusammenarbeit zu bewegen. Eigentlich sind sie ja Konkurrenten. Es wird immer wieder die Frage gestellt, wie wir es fertigbringen, die Menschen vor Ort einzubeziehen, unser Stadtteil hat ja rund 550 000 Einwohner. Man möchte auch mehr über unsere Messungen erfahren. Wenn wir über das Lebenserwartungsgefälle sprechen, ist uns immer auch bewusst, dass kardiometabolische Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Säuglingssterblichkeit, Tötungsdelikte und Opioid-Überdosierung dessen Hauptfaktoren sind.
Wenn Sie sich die West Side heute anschauen, wie sieht Ihre Vision für die Zukunft aus?
Meine Vision ist, dass der Stadtteil zu seiner einstigen Lebendigkeit zurückfindet. Wir sitzen hier im alten Sears Tower, der das wirtschaftliche Fundament der West Side war. Partner wie die Foundation for Homan Square setzen sich dafür ein, diesen Platz zu einem Symbol der Wiederbelebung zu machen, in dessen Umgebung nachhaltige Geschäfte und Wohnraum entstehen.
Das Sankofa Wellness Village befindet sich noch im Bau, aber Ayesha Jaco erkennt daran schon, wie es das Erscheinungsbild von Chicagos West Side verändern wird.
Welche Risiken sind mit dieser Wiederbelebung verbunden?
Beim Wiederaufbau müssen wir uns vor Gentrifizierung schützen, damit die Menschen, die jetzt hier wohnen, es sich leisten können, zu bleiben. Ich sehe eine Zukunft, in der unsere Bemühungen Unternehmen und Investoren anziehen, die sich für das langfristige Wachstum dieses Stadtteils einsetzen, ähnlich wie beim Projekt Sankofa Wellness Village. Dieses Gebiet verdient dieselben Ressourcen und Möglichkeiten wie andere, besser entwickelte Stadtteile.
Was möchten Sie mit dem Wellness-Center erreichen?
Es befindet sich noch in der Entwicklung, wird aber Teil des Sankofa Wellness Village im Garfield Park sein. Dieses Projekt zeigt, was alles möglich ist, wenn Spitäler, gemeinnützige Organisationen und die Bewohner an einem Strang ziehen, um etwas Sinnvolles, von der Vision der Gemeinschaft Getragenes zu schaffen. Es ist ein Schritt hin zu einer gerechteren Gesundheitsversorgung und zu Investitionen in seit Jahrzehnten vernachlässigte Gebiete.
Sie stammen aus der West Side. Was bedeutet diese Arbeit für Sie persönlich?
Da ich aus der West Side stamme, ist diese Arbeit für mich ein sehr persönliches Anliegen. Ich weiss, wie es ist, in einer wirtschaftlich vernachlässigten Gegend aufzuwachsen. Entscheidend ist, der nächsten Generation Möglichkeiten zu bieten. Ich will, dass die jungen Menschen, die jetzt hier aufwachsen, Zugang zu den Ressourcen und der medizinischen Versorgung haben, die ich nicht hatte. Bei dieser Arbeit geht es darum, das Fundament einer besseren Zukunft für die Bewohner der West Side zu legen, eine Zukunft, die sich an den Bedürfnissen der Gemeinschaft orientiert und durch gerechte Investitionen unterstützt wird.
Was sehen Sie, wenn Sie vom alten Sears Tower nach draussen schauen?
Wenn ich hinausschaue, sehe ich Potenzial. Ich sehe das Spital, in dem ich geboren wurde, und ich sehe, wie Projekte Gestalt annehmen, etwa das Sankofa Wellness Village oder die Wäscherei Fillmore Linen in North Lawndale. Mir geht des Herz auf, weil ich weiss, dass dies erst der Anfang dessen ist, was in Chicagos West Side möglich ist.
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Stärkung des Gesundheitssystems
2. Das Potenzial erkennen
Chicago aus Sicht der Wirtschaftsentwicklung.
Epilog: Eine Erfolgsmeldung
E3 ist bereit Chicago zu verändern.
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