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Ein einzigartiger Blick über die Walliser Alpen vom Medizinalpflanzengarten Gentiana bei Leysin.

Dieser Artikel wurde ursprünglich im April 2014 publiziert.
Publiziert am 01/06/2020

Die Wiederentdeckung der pflanzlichen Heilkräfte für die Herstellung von Medikamenten beschert dem Medizinalpflanzengarten Gentiana in Leysin vermehrt Beachtung. Angelegt auf einer sonnigen Terrasse über der Rhoneebene erleben die Besucherinnen und Besucher nicht nur einen einzigartigen Garten auf 1100 Meter über Meer mit der Vielfalt von über 1000 Heilpflanzen. Sie erfahren auch viel über die Eigenschaften, Anwendung und Risiken von Kräutern, Beeren und Wurzeln.

Kräutergärten haben eine lange Geschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Vor allem in Klöstern und Königshäusern wurden solche Gärten gehegt und gepflegt. Damals wurden Pflanzen in erster Linie für die Küche gezogen. Aber schon in der Vergangenheit spielten Heilkräuter, oder zumindest der Glaube an ihre heilende Wirkung, eine wichtige Rolle. Einen besonders schönen Kräutergarten beherbergt beispielsweise das Schloss Wildegg im Kanton Aargau. Der Medizinalpflanzengarten in Leysin ist dagegen einzigartig in der Schweiz und seine Bedeutung wächst, da Naturstoffe wieder vermehrt nachgefragt und auch in der breiten Bevölkerung beliebter werden.

«Die letzte Pflanze, die als Medikament bei Swissmedic registriert wurde, ist der Rosenwurz. Das war vor etwa zweieinhalb Jahren», erklärt Kurt Hostettmann, Präsident der Stiftung Gentiana. «Das Medikament wird Menschen verschrieben, die unter Stress leiden.» Der emeritierte Professor steht in seinem Garten, deutet auf den Rosenwurz und ist sichtlich im Element. Er lehrte während 24 Jahren Pharmakognosie und Phytochemie an der Universität Lausanne und fünf weitere Jahre an der Universität Genf, als der Studienbereich dorthin verlegt wurde.

«Der Rosenwurz wurde gegen 1979 durch Ärzte der sowjetischen Armee bekannt. Sie verabreichten ihren Soldaten während des Kriegs in Afghanistan die Wurzeln dieser Pflanze zum Kauen gegen Angst, Müdigkeit und Stress», erzählt Hostettmann. Um die gelbe Pflanze sei mittlerweile ein riesiger Markt entstanden, seit Themen wie Burnout und Stress in unserer Gesellschaft immer akuter werden. Es brauche viel, bis Swissmedic, das Schweizerische Heilmittelinstitut, ein Medikament in die Liste der zugelassenen Heilmittel aufnehme, betont Hostettmann. Bezüglich Qualität, Sicherheit und Wirkung müssten hohe Anforderungen erfüllt werden.

Seit fünf Jahren ist Kurt Hostettmann pensioniert. Doch das ändert nichts daran, dass Heilpflanzen sein Leben und seine Leidenschaft sind. Sein Studium der Chemie an der Universität Neuchâtel schloss er einst mit einer Dissertation über die Inhaltsstoffe von Enzianpflanzen ab. Kein Wunder, hat er seiner Stiftung den Namen «Gentiana» – Enzian – gegeben. Rund 40 Enzianarten blühen im Medizinalpflanzengarten. Weltweit gibt es rund 400 verschiedene Enzianarten.

Aufklärung und Entspannung

Der aus Biel stammende Professor ist ein guter Erzähler, seine Wörter sprudeln auf Deutsch und Französisch.

«Die alten Griechen haben ihren Kindern Rosmarin auf die Schläfen und Stirnen eingerieben, um sie intelligenter zu machen.» Und mittlerweile habe man Rosmarin wieder als Heilmittel entdeckt. Vor zwei Jahren sei eine in England durchgeführte Studie in einer grossen, pharmakologischen Zeitschrift in den USA publiziert worden. Die Kernaussage: Bei neuropsychologischen Tests mit Studenten schnitten diejenigen am besten ab, welche die höhere Konzentration von Rosmarinstoffen im Blut aufwiesen. Und Hostettmann weiss: «In den USA wird in Altersheimen den Bewohnern zur Vorbeugung gegen Alzheimer Rosmarinöl zum Inhalieren verabreicht.»

Auf den sorgfältig gekehrten Kiespfaden bewegen sich die Besucher von einer Pflanzengruppe zur andern. Der Garten ist in 15 verschiedene Bereiche angelegt, die Pflanzen sind nach ihren therapeutischen Indikationen gruppiert und gesetzt worden und jedes Beet ist fein säuberlich mit Täfelchen angeschrieben. So gibt es die Gruppe mit Pflanzen zur Krebsvorbeugung, Pflanzen fürs Herz, Pflanzen gegen den Schmerz, Pflanzen für die Frau, Pflanzen gegen Erkältung und Pflanzen, die als Abführmittel dienen können.

Eine besondere Gruppe ist den Giftpflanzen gewidmet. Kurt Hostettmann sagt: «Viele Menschen glauben, alles was in der Natur wächst, ist auch gut. Das ist falsch. Wir möchten unsere Besucherinnen und Besucher auch vor den Pflanzen warnen, die sie unbedingt meiden sollten. Es gibt nicht nur heilkräftige Pflanzen, sondern auch für den Menschen giftige Pflanzen.»

Als Anschauung sucht er Fotos hervor, die Arme, Hände und Oberkörper von Menschen zeigen, deren Haut zum Teil stark verätzt ist. Dann greift er eine Knospe der Euphorbia, ritzt mit einem Sackmesser einen Schnitt und presst den weissen Saft heraus. «Dieser Saft ist giftig und kann zu schweren Hautschäden führen.» Hochgiftig bis tödlich, so steht es auf dem Schild, sind auch Blauer und Gelber Eisenhut, Echter Seidelbast, Roter Fingerhut oder auch die Herbstzeitlose.

Weniger drastisch, aber auch nicht harmlos sind Pflanzen, die im Wald oder auf der Wiese häufig verwechselt werden. Die Blätter des Maiglöckchens sehen ähnlich aus wie Bärlauch. Doch man sollte sie beim Salat zubereiten nicht verwechseln. Maiglöckchen sind stark giftig. Kurt Hostettmann räumt auch mit der Mär auf, die an Hoden erinnernde Knolle der Orchidee verfüge als Pulver über potenzsteigernde Kräfte. Viel wirkungsvoller sei, so der Professor, täglich zwei Deziliter Granatapfelkonzentrat zu trinken, weil dadurch der Testosteronwert im Speichel bis zu 20 Prozent gesteigert werde.

Die alpinen Pflanzen gedeihen auf dem besonnten, kalkhaltigen Gestein, in Trocken- und Feuchtgebieten, zwischen Laubbäumen und Gehölz. Und die Besucher können Pflanzen bewundern, die man in der Schweiz kaum findet, so aus dem Himalaya-Gebiet, dem Kaukasus oder den USA.

Auch der Ginkgobaum gedeiht gut im Höhenklima. Ihm widmet Kurt Hostettmann besondere Beachtung. Extrakte aus den speziell geformten Blättern wirken sich positiv auf die Gedächtnisleistungen aus, fördern die Konzentrationsfähigkeit und die Durchblutung des Gehirns. Der Professor ist überzeugt: Auch diese Pflanze könnte für die Prävention von Alzheimer an Bedeutung gewinnen.

Leysin im Aufbruch

Aber weshalb kam er eigentlich darauf, diesen Garten anzulegen? Leysin war einst als Höhenklinik für Tuberkulose-Patienten bekannt gewesen. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es hier diverse bekannte Sanatorien. «Mit der Entdeckung von Antibiotika nahm das alles ein Ende», erklärt Hostettmann. «Fortan konnten Lungenkrankheiten wirksam bekämpft werden. Die Sanatorien wurden geschlossen und mit Leysin als Kurort ging es bergab.»

Leysin etablierte sich als Wintersport-Ort, doch im Sommer mangelt es an Besuchern. So kam der ehemalige Gemeindepräsident Maurice Besse auf die Idee, einen botanischen Garten anzulegen, wie ihn Leysin bereits im vorletzten Jahrhundert besessen hatte. Mit der Anfrage Besses konfrontiert, sagte Kurt Hostettmann zuerst einmal nein. Denn botanische Gärten gibt es einige im Wallis und in der Waadt. «Das machte keinen Sinn. Deshalb schlug ich den Aufbau eines Heilpflanzengartens vor, der die Gesundheit und das Wohlbefinden in den Vordergrund stellt. Das passt zu Leysin.»

So wurde 2002 die Stiftung Gentiana gegründet. Das von der Gemeinde zur Verfügung gestellte, gegen Süden windgeschützte Terrain ist ideal. Dank der finanziellen Unterstützung der Gemeinde Leysin, der Loterie Romande, der Sandoz-Familienstiftung, diverser Pharmaunternehmen und dank privaten Gönnern konnte unter der Regie von Kurt Hostettmann dieser Garten angelegt werden. Das Terrain ist rund 30 000 Quadratmeter gross.

Der Garten ist auf derzeit 6000 Quadratmeter angelegt und wurde 2004 eröffnet. Beim Eingang steht ein schlichtes, altes Chalet, in dem die Gärtner Schutz vor Wind und Wetter finden und in dem auch ein kleiner Kiosk untergebracht ist.

Rund 50 000 Franken kostet der Unterhalt des Gartens pro Jahr. Kurt Hostettmann verheimlicht nicht, dass die Finanzierung des «Gentiana» auch schon gefährdet war und gar die Schliessung im Raum stand. «Wir haben nicht nur mehrjährige Pflanzen, wir haben auch viele Pflanzen, die wir jedes Jahr neu setzen müssen. Das ist ein grosser Aufwand.»

Dieses Jahr feiert der Garten sein zehnjähriges Bestehen und der unermüdliche Professor plant neue Projekte. Er möchte die Pflanzen im Garten nach Familien gruppieren und so Verwandtschaften erfahrbar machen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Zum Beispiel die Vielfalt und Bedeutung der Nachtschattengewächse.

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